TV-Dokudrama (52min) – ORF Universum History / NDR / Arte
Erstausstrahlung: 5. März 2024, 21:05, ORF2
Arte- und NDR-Ausstrahlungen 2024
Die sechzehnjährige Wiener Arbeitertochter Marie König läuft im Frühjahr 1902 vor ihrem prügelnden Vater davon. Kurz darauf wird sie in der Praterstraße von einer Kupplerin angesprochen, die sie gegen eine Vermittlungsprovision in das Bordell der Regine Riehl bringt. Statt des versprochenen „selbstbestimmten Lebens mit Fiakerfahrten und Seidenkleidern“ erlebt Marie hier verschlossene Türen, psychische und körperliche Gewalt. Geld bekommt Marie keines – dafür kassiert ihr Vater von Riehl eine monatliche Zahlung. Drei Jahre später will Marie dem Bordell entkommen. Sie vertraut sich dem Journalisten Emil Bader an, der die Zustände im „Salon Riehl“ öffentlich macht und die Bordellbetreiberin vor Gericht bringt.
Der Riehl-Prozess im November 1906 wühlt die Öffentlichkeit auf, weit über Wien hinaus. Mit einer Mischung aus Voyeurismus, Empörung und Mitleid nimmt das Publikum detaillierten Einblick in die Lebensumstände der „Freudenmädchen“. In packenden und präzis gespielten Spielszenen rekonstruiert Regisseur Stefan Ludwig mit einem hochkarätigen Ensemble – die Bordellchefin Riehl wird von Maria Hofstätter verkörpert – das Courtroom Drama rund um den Prozess Riehl.
Marie König ist kein Einzelfall. Die boomende Metropole Wien ist Schauplatz einer riesigen Elends- und Gelegenheitsprostitution, von der die Bordelle nur die Spitze des Eisbergs ausmachen. Prostitution ist zwar illegal, aber toleriert: Man betrachtet sie als „notwendiges Übel“ für die sexuellen Bedürfnisse der Männer. Um die Kunden – und deren Frauen – vor Geschlechtskrankheiten zu schützen, überwacht die Polizei die Prostituierten, zwingt sie zu regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen und ist so Teil des Bordellsystems.
Im internationalen Frauenhandel des Fin de Siècle spielt Europa eine Schlüsselrolle als Herkunftsgebiet. Viele Betroffene kommen aus den bettelarmen Regionen Osteuropas, vor allem aus Galizien (damals Österreich, heute Polen/Ukraine) und dem russisch regierten Teil Polens. Endstation sind Bordelle etwa in Indien, den USA, dem Osmanischen Reich – und ganz besonders in Argentinien und Brasilien, wo die europäische Einwanderung zu „Männerüberschuss“ und damit einer hohen Nachfrage führt.
Die Prostituierten kommen der der aufgeheizten Debatte um 1900 oft nur als Abziehbilder vor – entweder als das Flittchen (um das es nicht schade sei) oder als bemitleidenswertes Opfer von „weißer Sklaverei“. Erst in den letzten Jahren interessiert sich die Forschung für eine differenzierte Erforschung ihrer Perspektive. Historikerin Nancy Wingfield weist darauf hin, dass ein Teil der Frauen in der Prostitution – trotz ausbeuterischer und gewalttätiger Strukturen – Handlungsoptionen besaßen, Entscheidungen trafen und selbst an der Verbesserung ihrer Situation arbeiteten. Das konnte heißen, dass sie aufbegehrten. Aber auch, dass sie innerhalb des Systems Prostitution den Aufstieg schafften. Oder dass sie irgendwann still das Gewerbe verließen, heirateten oder in andere Jobs wechselten.
Ein eindrucksvolles Beispiel für Frauen in der Sexarbeit, die miteinander solidarisch waren und sich selbst organisierten, findet sich in Rio de Janeiro: Hier gründeten jüdische Prostituierte aus Osteuropa, die wegen ihres Broterwerbs aus den offiziellen jüdischen Gemeinden ausgeschlossen wurden, eine eigene Gemeinschaft mit Synagoge, Friedhof und sogar einer Krankenversicherung.
Auch der Wiener Riehl-Prozess zeigt am Ende unterschiedlichen Lebenswege. Riehl wird verurteilt. Marie König lässt die Prostitution hinter sich. Andere bleiben im Gewerbe, klagen aber in einem Zivilprozess vorenthaltene Verdienste ein. Eine der Frauen macht später selbst ein Vermögen als Bordellchefin. Der Riehl-Prozess war mehr als ein Skandal. Er war ein Schlüsselmoment, in dem Frauen in der Prostitution erstmals öffentlich aus ihrer Opferrolle heraustraten.
„Diesen Frauen gehört ein Denkmal gesetzt“ – TV-Bericht vom Set
mit
Markus Schleinzer
Alice Prosser
Christoph Radakovits
Julia Wozek
Fanny Altenburger
Gina Christof
Franz Weichenberger
Alexandra Maria Timmel
Rainer Doppler
Benjamin Turecek
Regie & Buch
Stefan Ludwig
Nancy Wingfield
Kurt Maximilian Frank
Alice Stengl
Carolina Steinbrecher
Sebastian Arlamovsky
Christian Gschier
Lotte Lyon
Belinda Winkler
Christine Winkler
Laurenz Gensthaler
Sergey Martynyuk
Karin Ruthardt
Chrissi Akbaba
Robert Zapletal
Casting
Martina Poel
Produktionsleitung
Selina Nenning
Bernhard Schmatz
Teresa-Saija Wieser
Herstellungsleitung
Markus Glaser
Produzenten
Markus Glaser
Michael Kitzberger
Wolfgang Widerhofer
Nikolaus Geyrhalter
Produktion
NGF – Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH
in Koproduktion mit
ORF
NDR
arte
Mit Unterstützung von
Fernsehfonds Austria
Filmfonds Wien
VAM
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