Wir alle haben Äpfel unter den Füßen. Ich, das Kamerateam und Gisela Mayer, letztere in durchweichten Straßenschuhen mit halbhohen Absätzen. Wir rutschen auf Äpfeln aus, kicken sie zur Seite und treten die angefaulten versehentlich zu Brei. Wir schauen uns an und schmunzeln. Dabei geht es um Tragisches. Gisela Mayer hat vor sieben Jahren ihre Tochter bei einem Amoklauf verloren. Unser Drehort: Winnenden. Dritter und letzter Drehtag für das Doku-Format „Feierabend“ im ORF.
Was tut man, wenn man im Fernsehen von Trauer, Schmerz und dem Zerbrechen eines Lebens erzählen soll? Wenn es nur ein langes Interview gibt und schmutziges Nachrichtenmaterial von 2009? Ich suche nach poetischen Bildern. Das Unfassbare in Wasserflächen, Herbstlaub, Wolken, faulenden Äpfeln. Gisela Mayer spielt mit. Lässt sich geduldig von uns durch gestaltete Bilder schicken, ein ums andere Mal. Bitte. Danke.
Gisela Mayer hat einen professionellen Umgang mit uns Medienleuten, aber keinen fertigen Text. Mit jedem Interview setzt sie sich erneut dem Unbegreiflichen aus, das vor sieben Jahren ihr Leben umgekrempelt hat. Ein 17jähriger Bursche marschiert in seine ehemalige Schule und erschießt insgesamt fünfzehn Menschen, darunter Frau Mayers Tochter Nina, damals eine 24jährige Junglehrerin. Frau Mayer ist gläubige Katholikin und studierte Philosophin. Nach dem tiefen Fall versucht sie, was sie immer schon getan hat: Hinter die Dinge zu blicken. Sie beginnt, sich mit der Täterseite auseinanderzusetzen. Versucht, Kontakt mit den Eltern des Amokläufers aufzunehmen. Sie engagiert sich für Gewaltprävention an Schulen. Sie liest sich in die Psychologie von Amoktätern ein. Sie stellt sich sogar dem Jugendgericht zur Verfügung – als Gesprächspartnerin für Burschen, die wegen Amokdrohungen verurteilt wurden. Ich bin ihre Strafe, sagt sie trocken. Eine Stunde mit der Mutter eines Opfers reden. Allein. Für die Jungen eine äußerst unangenehme Verpflichtung. Manchen öffnet es die Augen. Andere lässt es kalt.
Das Erinnern an den Amoklauf ist in Winnenden inzwischen zu einer festen Form geworden. Die Schule hat am Tatort einen Gedenkraum eingerichtet. Schüler haben die tausenden Kerzen, die damals vor der Schule brannten, eingesammelt, eingeschmolzen und gießen sie unter Anleitung des Schulseelsorgers zu Gedenkkerzen. Fast wie Reliquien. Die Schule hat einen Anbau bekommen, der die damals tausendmal abgefilmte Fassade ein wenig verdeckt. Schulseelsorge, Sozialarbeit, Zusatzangebote – alles ist vorbildlich ausgebaut. Alles hat seine Form. Aber die Wunden sind da. Auch das spüre ich bei meinem Besuch. Es muss den Leuten wehgetan haben, dass der Täter von München hierhergekommen ist, um sich „inspirieren“ zu lassen.
Zwei Stunden nach unserem Gang durch die Obstwiese bekomme ich von Gisela Mayer ein SMS. Sie bedankt sich, dass wir pünktlich fertig geworden sind und findet, es war schön mit uns zu arbeiten. Ich bin froh und dankbar für diese eindrucksvolle Begegnung.
FeierAbend
Nach dem Amok – In jeder Welle, in jedem Windstoß
1.11.2015, 20:00, ORF2
Gisela Mayer leitet die Stiftung gegen Gewalt an Schulen.