Am Nebentisch beobachtet mich ein weißhaariger Mann. Er nimmt sein Bier und geht auf mich zu. Gestenreich und in gepflegtem Englisch redet er auf mich ein, verbirgt den Ernst der Sache hinter Scherz. Was führt dich in unser Dorf? Bist du ein Spion? Ein Außerirdischer?
István Kohut ist pensionierter Chemiker, hat lange im Ausland gelebt. Er weiß genau, was mich hierher führt. Die buddhistische Schule für die Roma, die neuerdings so viel Aufmerksamkeit bekommt. Er erklärt mir umständlich, dass jede Medaille drei Seiten hat. Die Vorderseite, die Rückseite und den Rand.
Kohut gehört zur Nichtroma-Mehrheit, er ist ein „weißer“ Ungar. 2000 Ungarn leben hier in Sajókaza mit 1000 Roma zusammen. Jeder geht davon aus, das die Roma in den nächsten Jahren die Mehrheit sein werden. Viele Roma haben große Familien. Junge Ungarn dagegen ziehen weg, auf der Suche nach Jobs in Budapest oder im Westen. Kohut erzählt von Konflikten. Von Roma-Jungs, die ihn mit Messern überfallen haben, von demolierten Weinkellern und gestohlenem Metall. Er beteuert ein ums andere Mal, dass er kein Rassist ist. Er glaubt an Bildung. Eine Zeitlang hat er Roma-Kids sogar kostenlos Nachhilfe gegeben.
Ich beginne, meinen Dokumentarfilm Der zornige Buddha zu drehen und tauche immer tiefer in die gespaltene Welt von Sajókaza ein. Ich sitze stundenlang an Küchentischen und höre zu. Ich knüpfe Kontakte auf beiden Seiten. Und irgendwann grüßen mich Leute auf der Straße, die sich gegenseitig nicht mehr grüßen. Oder nie gegrüßt haben.
Die Roma erzählen mir von der täglichen Diskriminierung, von Übergriffen durch Rechtsextreme und Skinheadbanden. Auch die Nichtroma klagen mir ihr Leid. Eine Familie wohnt direkt neben dem Ghetto. Sie haben ihr Haus hinter einer meterhohen Mauer verbarrikadiert. Kürzlich gab es einen Streit mit Roma-Jungs, „und auf einmal standen 200 da“. Seitdem geht die Frau nicht mehr joggen, sondern benutzt einen Hometrainer im Keller. Die Kinder fahren sie ins Nachbardorf in die Schule und sogar zum Spielplatz. Alles wovon sie träumen ist eine große Mauer zwischen ihrer Straße und der Romasiedlung. Die Frau bricht in Tränen aus. Sie wollen, dass ich sie verstehe. Vor die Kamera wollen sie nicht.
Es ist verwirrend und deprimierend. Manchmal habe ich das Gefühl, ich verrate die eine Seite, wenn ich der anderen zu lange zuhöre.
Später im Schneideraum montiere ich die ganzen Horrorstories zusammen. Wer wen geschlagen, diskriminiert und bedroht hat. Es gibt keinen Sinn, wirkt wie ein endloses Aufrechnen. Dieses Dorf ist total gespalten, und keiner ist froh darüber. Die Roma leiden unter Verelendung und Diskriminierung. Die Ungarn haben Angst davor, dass sie selber bald die Minderheit im eigenen Dorf sein werden.
Es wäre billig und arrogant, als Westeuropäer ein einseitiges Urteil über eine von beiden Gruppen zu fällen. Ich kann als Außenstehender den Menschen im Dorf auch nicht abnehmen, ihre Konflikte miteinander auszutragen. Ich weiß nur: Die Fantasien, „eine Mauer zu bauen“ lösen kein Problem. Die einzige Hoffnung ist, dass es gelingt, allen Kindern des Dorfes durch Bildung eine Perspektive im Leben zu geben. So wie es János Orsós und Tibor Derdák mit ihrer Ambedkar-Schule versuchen.
Wenn sie Erfolg haben, ist es egal, ob die Mehrheit in Sajókaza in Zukunft hell- oder dunkelhäutig ist.
Der zornige Buddha
Ab 23. September im Kino